Arbeitszeiterfassung Großzügig war gestern

Zeiterfassung im Betrieb. Quelle: Getty Images

Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bringt Unternehmen dazu, bei ihren Mitarbeitern auf jede Minute zu schauen. Es wird gestritten, was zur Arbeitszeit gehört und was nicht. Die wichtigsten Situationen im Überblick.

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Im Herbst 2022 überraschten die Bundesarbeitsrichter in Erfurt die Arbeitgeber mit ihrem Urteil, dass diese ab sofort verpflichtet sind, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter genau zu erfassen. Arbeitsrechtler Thomas Müller von der Kanzlei Lutz Abel beobachtet seitdem, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer häufiger um jede Minute streiten. Die Unternehmen wollen möglichst viele Tätigkeiten als Freizeit deklarieren, während die Mitarbeiter gerne seltener ausstempeln würden. Doch was gehört zur Arbeitszeit und was nicht? Dieses Interview mit Arbeitsrechtler Thomas Müller wurde im Oktober 2023 geführt. Wir zeigen es aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.

WirtschaftsWoche: Herr Müller, inwiefern hat sich der Streit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern über die Arbeitszeit in den vergangenen Jahren verändert? 
Thomas Müller: Früher waren es eher die Industriearbeiter großer Unternehmen, die erstritten, dass Umkleidezeiten oder sogar Pausen als Arbeitszeit vergütet wurden. Heute streiten auch Arbeitnehmer in Verwaltungstätigkeiten um die Anerkennung jeder Minute als Arbeitszeit. Umgekehrt wollen die Unternehmen in der Mehrzahl jedoch nicht jede Minute bezahlen, um ihre Personalkosten nicht noch weiter steigen zu lassen. 

Warum hat sich dieses Thema aus den Werkshallen in die Büros verlagert?
Manche haben Vertrauensarbeitszeit, ich schätze jeder vierte bis fünfte Büroarbeiter und die trifft die minutiöse Kontrolle kaum. Aber in all den anderen Fällen gucken Arbeitgeber wie Arbeitnehmer heute genauer hin, wieviel Lebenszeit sie fordern oder eben nicht geben wollen.

Zur Person

Und das nimmt zum Teil skurrile Züge an.
Der Inhaber einer Anwaltskanzlei aus dem Rheinland zum Beispiel notierte die Dauer der Toilettengänge eines Mitarbeiters. Er kam dabei innerhalb eines knappen Monats auf 384 Minuten und errechnete daraus eine Gehaltsüberzahlung, die er dem Mitarbeiter vom nächsten Gehalt abzog. Die Richter am Arbeitsgericht Köln sahen das jedoch völlig anders: Toilettengänge seien grundsätzlich vergütungspflichtige Arbeitszeit. Ein Lohnabzug dafür sei unzulässig. Auch nicht bei 30 Minuten pro Tag.

Was sind weitere Fälle, die Arbeitgeber fälschlicherweise als nicht geleistete Arbeitszeit werten?
Arbeitgeber ziehen ausgefallene Arbeitszeit den Mitarbeitern gerne einmal vom Lohn ab. Aber Achtung: Der Lohnabzug ist immer dann unzulässig, wenn die Minusstunden in den Verantwortungsbereich des Arbeitgebers fallen. Zum Beispiel wenn die die EDV und die Arbeitnehmer ihre Leistung deshalb nicht erbringen können.

Was gehört denn definitiv nicht zur Arbeitszeit?
Private Telefonate rechnen nicht zur Arbeitszeit – bisher wurden die nur in krassen Ausnahmefällen zum Streitthema, aber wenn immer kleinteiliger gestritten wird, ist die Lage eindeutig: Sie sind Privatsache. Gleiches gilt, wenn Mitarbeiter privat im Netz surfen oder im Supermarkt gegenüber zum Einkaufen verschwinden. Auch einen Kaffee trinken gehört nicht zur Arbeitszeit: Eine Angestellte in Westfalen verlor kürzlich ihren Job, weil sie sich zu Arbeitsbeginn einstempelte, aber anstatt an die Arbeit direkt ins Café gegenüber ging. Deren Kündigung war laut Landesarbeitsgericht Hamm wirksam. Sie beging Arbeitszeitbetrug.

Welche Fälle gelten noch als Arbeitszeitbetrug?
Auch Mitarbeiter, die sich abwechselnd und gegenseitig vorzeitig beim Arbeitgeber einstempeln, begehen Arbeitszeitbetrug. Für den stempelnden Mitarbeiter ist es Beihilfe zum Arbeitszeitbetrug. Erst kürzlich wurde mir ein Fall zugetragen, in dem sich eine ganze Schicht darauf verständigt hat, nicht zu arbeiten. Aufgeflogen ist das Ganze dadurch, dass die EDV anzeigte, dass das Laserschnittgerät für die Dauer der Schicht nicht in Betrieb genommen wurde.

Wie sieht es aus, wenn Mitarbeiter, die eigentlich im Homeoffice arbeiten, ins Büros fahren müssen? Gilt das als Arbeitszeit?
Die Anfahrt von zuhause in die Firma ist im Normalfall Privatsache. Die Arbeit beginnt beim Einstempeln oder mit dem  Betreten der Firma. Der Grundsatz heißt: Ist der Mitarbeiter arbeitsbereit, geht’s los. Aber auch das Hochfahren des PCs ist Arbeitszeit. Für Homeoffice-Mitarbeiter gibt es Besonderheiten. Ist vereinbart, dass der Montag und der Freitag feste Homeoffice-Tage sind, zählen angewiesene außerplanmäßige Fahrten ins Büro an diesen beiden Tagen – etwa zu Meetings – als Arbeitszeit. Dasselbe gilt für Leute mit ständigem Telearbeitsplatz, bei denen ist die Fahrt ins Büro grundsätzlich Arbeitszeit und auch als Dienstreise abrechenbar ist.

Apropos Dienstreise: Was rechnet da hinein?
Nach der neueren Rechtsprechung so gut wie alles. Startet ein Mitarbeiter von zuhause um 9 Uhr und kommt um 18 Uhr zurück, rechnet grundsätzlich alles als Arbeitszeit. Pausen müssen davon natürlich abgezogen werden.

Und das Get-together nach einer Konferenz? 
Wenn es der Wunsch des Chefs ist, dass alle durchgehend teilnehmen, dann ist auch das Arbeitszeit. Dasselbe gilt, wenn Betriebsfeiern innerhalb der üblichen Arbeitszeit stattfinden – auch die gehören zur Arbeitszeit. Denn umgekehrt gilt: Will jemand nicht an der Betriebsfeier teilnehmen, muss er eben arbeiten.

Die Unternehmen, die ihre Mitarbeiter jetzt aus den Homeoffices zurückholen wollen, argumentieren mit mangelndem Austausch und fehlender Kreativität. Müsste demnach der Teeküchentratsch nicht zur Arbeitszeit zählen?
Da sind die Grenzen sind oft fließend. Das Gespräch über das Urlaubsziel in Italien ist definitiv privat, aber der Kontakt zu dem Betreffenden in der anderen Abteilung kann irgendwann sehr nützlich für den eigenen Job werden. Oder wenn unter Kollegen Tipps für dienstliche Internetanwendungen ausgetauscht werden.

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Gibt es irgendeine Faustregel, um das besser zu kategorisieren?
Pausen jedweder Art, auch der private Plausch in der Kaffeeküche oder die Raucherpause, gehören nicht zur Arbeitszeit. In der Regel jedoch drücken Vorgesetzte an dieser Stelle ein Auge zu. Zumal ja nie klar sein wird, ob das Gespräch betrieblich oder privat veranlasst war oder es sogar einen Mischcharakter hatte. Sie sehen, das ist juristisch kaum zu greifen. Sollten Vorgesetzte jedoch nur bei einem bestimmten Arbeitnehmer kein Auge zu drücken, könnte durch die Duldung in der Vergangenheit eine betriebliche Übung entstanden sein oder vielleicht auch der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt werden.

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